Ahlen gründet den Lesekreis der Zukunft – Demokratie zwischen Regalfach 7b und Staubschicht
Dienstag, 23. September – das Datum für die Weltliteratur
Von 15 bis 16 Uhr – also genau in der Stunde, in der die halbe Stadt entweder Kaffee trinkt oder auf Facebook diskutiert, ob die Ampel zu lange rot war – versammelt man sich in der Bibliothek. Eine Stunde reicht locker, um die großen Fragen der Literatur zu klären: „Sollen wir lieber Goethe oder Gossip Girl lesen? Faust oder Fifty Shades?“
Demokratie light mit Büchern
Die Leitung verkündet stolz: „Wir möchten gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern überlegen, wie der Lesekreis gestaltet werden soll.“ Endlich! Nicht die Politik bestimmt über Müllabfuhrgebühren oder Radwegfarben, sondern der Bürger selbst entscheidet, ob demnächst mehr Krimis oder Liebesschnulzen auf den Tisch kommen. Das ist basisdemokratische Selbstermächtigung auf allerhöchstem Niveau. Heute Lesekreis, morgen Weltregierung.
Buchauswahl nach Mehrheitsprinzip
Wie die Auswahl der Bücher aussieht, darf man sich schon bildlich vorstellen: Da sitzen zehn Leute im Kreis, einer schlägt Dostojewski vor, der nächste die „Rezeptfibel der Landfrauen“. Nach hitziger Debatte gewinnt die Landfrauenfibel – weil Kuchenargumente in Ahlen immer stechen. Und wehe, einer bringt den Vorschlag „Harry Potter“ ein – dann gibt es sofort den Antrag auf eine Abstimmung mit Zweidrittelmehrheit, weil Fantasy nicht jedem geheuer ist.
Häufigkeit der Treffen – die Gretchenfrage
Die zweite große Streitfrage: „Wie oft wollen wir uns treffen?“ Einmal im Monat, einmal pro Quartal oder lieber nur dann, wenn es regnet? Erfahrungsgemäß dauert die Diskussion länger als das eigentliche Lesen. Ergebnis: Man trifft sich so oft, bis keiner mehr Lust hat, dann wird der Lesekreis feierlich „in die Pause“ geschickt – bis zur nächsten Wiedergeburt als „Bücherstammtisch 2.0“.
Die Stadtbücherei als Welttheater
Das Setting: eine halbleere Bibliothek, in der man außer ein paar verirrten Studierenden hauptsächlich Menschen trifft, die die Bücherregale als praktischen Staubfilter schätzen. Zwischen Regalfach 7b („Reiseführer Ostwestfalen 1984“) und einem Lexikon, das zuletzt 1996 aktualisiert wurde, entfaltet sich die Zukunft der Kulturpolitik. Man kann sich kaum einen würdigeren Ort vorstellen.
SINN – der Name ist Programm
Natürlich darf man den Markennamen nicht unterschätzen. SINN-Treff klingt wie ein spirituelles Retreat: man erwartet Klangschalen, Yoga-Matten und Räucherstäbchen. Tatsächlich gibt es vermutlich nur klapprige Stühle, einen Kugelschreiber zur Teilnehmerliste und die unausgesprochene Hoffnung, dass wenigstens einer Kaffee mitgebracht hat.
Weltliteratur auf Ahlener Art
Am Ende wird man feststellen: Auch ein Lesekreis ist nichts anderes als ein kleines Abbild der Stadt. Man redet, man diskutiert, man stimmt ab, man verschiebt Entscheidungen. Nur dass hier statt Millionenbudgets die Frage auf dem Spiel steht, ob als Nächstes Thomas Mann oder die „Gartenfreund“-Zeitschrift gelesen wird.
Kurzum: Ein ganz normaler Dienstag in Ahlen. Nur eben mit mehr Bücherregalromantik und weniger Tagesordnungspunkten.